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Philipper 2, 11

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Es ist ein uralter Traum der Menschheit, unverwundbar zu sein, Sagen erzählen davon. Die meisten von uns kennen das Nibelungenlied: Siegfried, der große Held, tötet den Dra­chen. Er badet sich in dessen Blut und wird dadurch unverwundbar. Kein Schwert kann ihm etwas anhaben. Doch während er sich im Drachenblut badet, fällt ein Lindenblatt auf seine Schulter. Das ist die eine wunde Stelle. Warum faszinieren uns solche Gestalten?
Wir träumen diesen Traum auf unsere Art. Wenn doch nur diese wunde Stelle nicht wäre!
Gott ist einen anderen Weg gegangen. Er wird Mensch und lässt sich verwunden, um die Menschen von ihrem Wahn der Unverwundbarkeit zu erlösen. Das geht nicht ohne Wunden. Er ist verletzlich. Er hat sich den Wunden ausgesetzt, am eigenen Leib. Er ist ihnen nicht ausgewichen. Er hat sich lieber verwunden lassen, als andere zu verwunden, Narben, die sich eingeprägt haben.
Und auch wir haben Wunden und Narben: In unseren Gedanken, im Herzen, auf der Seele. Jesus trägt Wunden in den Händen.
Narben in der Hand kann man selbst oft ansehen. Man sieht die Narben und die Erinnerung ist wie­der da.
Jesus trägt Wunden an den Füßen. Sie machen das Gehen schwer, jeder Schritt erinnert an das, was hinter uns liegt. Sol­che Narben können hindern, einen Schritt auf einen Menschen zuzugehen.
Jesus trägt eine Wunde in der Seite. Die Narben eines anderen Men­schen tun weh, wenn die Verletzungen von uns selbst sind. Sie halten uns vor, was wir getan haben. Sie erinnern an unsere Schuld.
Jesus am Kreuz hält uns die Wunden vor. Er erinnert uns an unsere Schuld, an der wir tragen. Auch an die Schuld, die andere an uns tragen. Doch die Narben haben noch eine andere Seite. Sie sagen: Du hast es überlebt.
Wir können sagen: Meine vernarbten Hände können noch zupacken und nach anderen Händen greifen. Ich kann mit meinen vernarbten Füßen noch vorwärts gehen und sogar noch manches Tänzchen wagen. Und mein Herz schlägt noch am rechten Fleck - allen Narben, aller Schuld zum Trotz. Narben erinnern uns daran, dass wir leben. Die Wunden haben uns nicht erledigt.
Es ist menschlich, Wunden zu haben und verwundbar zu sein. Wunden können feinfühliger machen und hell­sichtig. Gott bewahre uns vor der Hornhaut der »unheilbar Gesunden«, vor jenem »Menschentyp, vor dem selbst der Geist Gottes ratlos steht und keinen Eingang findet, weil alles mit bürgerlichen Sicherheiten und Versicherun­gen verstellt ist«. Wo wirklich gelebt und ge­arbeitet, geliebt und Verantwortung wahrgenommen wird, da entstehen Wunden. Nur wer in der Lage ist, sich mit seinen wunden Punkten mitzu­teilen, wird auf dem Weg der Heilung vorankommen. Er wird an den Wunden anderer mittragen und an ihrer Heilung mitwirken, im Namen Jesu Christi, der heilte, indem er sich selbst verwun­den ließ. Darum wollen wir mit einstimmen, in den Monatsspruch für diesen Monat: „Alle Zungen sollen bekennen das Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters“ Er hat sich für uns verwunden lassen, dass wir das Lindenblatt auf unserer Seele aushalten können, weil wir uns getragen wissen von dem, der für uns in den Tod gegangen ist.
Jesu Wohnort ist die Wunde, die Wunde »zwischen Nacht und Tag«, zwischen der Son­nenfinsternis des Karfreitags und dem Aufgang der Sonne am Ostermorgen. Die Christenheit hat in dieser Wunde ihren Ursprung und Ort. Die Kirche ist, so sagen die Väter unseres Glaubens, aus Jesu Seitenwunde geboren.
Christen sind Menschen, die das »Fenster der Verwundbarkeit« nicht verleugnen. Wir wollen die eigenen Wunden nicht verbergen und wir wollen sie nicht überspielen. Wir tragen sie mit, weil wir wissen, „dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“

Anika Buchert