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Römer 14, 10-13 (Abschiedspredigt)

Römer 14,10-13

10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
11 Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.«
12 So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.
13 Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.


Liebe Gemeinde,

was für ein Text für einen Abschiedsgottesdienst?

Soll ich jetzt Rechenschaft ablegen über fast 40 Jahre Pfarrerdasein? Soll ich Ihnen jetzt erzählen, was mir alles gelungen ist, wie segensreich und toll ich gewesen bin, mir selbst zum Schluss noch einmal richtig auf die Schultern klopfen?

„So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben."

Nein, natürlich nicht! Wenn ich Gott Rechenschaft gebe, dann kann ich das nur für mich selber tun. Und wenn ich mir dazu nur einen Moment vorstelle, ich stehe vor dem Richterstuhl Gottes, dann kann ich nur schweigen, meine Knie beugen und Gott loben.
Paulus redet zwar den Einzelnen an, aber es geht ihm - wie so oft in seinen Briefen - um den Zusammenhalt in der Gemeinde.

Die Frage ist: Wie benehmen sich Geschwister im Glauben in der Gemeinde?

Als die junge christliche Gemeinde in Karthago wegen angeblich staatsfeindlicher Tendenzen angegriffen wurde, verteidigte sie der Schriftsteller Tertullian mit dem Hinweis: „Sieh, wie haben sie einander so lieb!" Tertullian war aufgefallen, wie offen und herzlich es unter den Christen zuging. Und vielleicht war es diese Erfahrung, die ihn bewog, (um das Jahr 190) selber Christ zu werden. Ich gebe zu, so wie offensichtlich die Gemeinde in Karthago lebte, war das auch lange Zeit meine ideale Vorstellung von einer Gemeinde.
Und hat nicht der Evangelist Johannes uns Jesu Worte beim letzten Abendmahl überliefert: (Johannes 13, Vers 34 + 35) „Und ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinan-der liebt, wie ich euch geliebt habe, damit Ihr einander lieb habt. Daran wird man erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt."
In Karthago zur Zeit Tertullians war das wohl so, in Rom zur Zeit des Paulus nicht.

Um den Hintergrund der Frage des Apostels „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder?" zu verstehen: will ich zuvor sagen, warum es hier geht:

Im 14. Kapitel ermahnt der Apostel die Christen in Rom „Gemeinde" zu sein. Er sieht Uneinigkeit in der christlichen Gemeinschaft und möchte die Einigkeit wieder herstellen.
Die Christen in Rom stritten sich seinerzeit darüber, ob man Opferfleisch essen darf oder nicht.

Zur Situation damals:

Das Fleisch von Tieren, heidnischen Götzen zu verruchtem Lob geopfert, wurde nach den Feiern auf dem Markt und in öffentlichen Läden zum Kauf angeboten. Wenn man zum Fleischer ging, konnte man nicht sicher sein, ungewollt Stücke solchen Opferfleisches zu kaufen und später dann zu essen. Manche Christen in Rom entsetzte allein die bloße Vorstellung davon. Sie verzichteten deshalb lieber gleich ganz auf Fleisch.

Heute würde man sie Fundamentalisten nennen. Christen, die sich so viele Gedanken darüber machten, so sensibel waren, ihren Glauben selbst noch am Mittagstisch leben wollten, diese frommen Leute wurden von den liberaleren, weltoffeneren Christen, die gab es damals offenbar auch schon, als die „Schwachen im Glauben" verspottet, verlacht, verurteilt. Man machte sich über die ängstlichen, verklemmten Christen lustig in der Gemeinde.

Da gab es nämlich eine andere Gruppe, die wussten es besser. Zeremonien können an der Qualität des Fleisches nichts ändern, darum aßen sie in großer Freiheit, ihnen war es egal, ob es Opferfleisch war oder nicht, Hauptsache es war frisch. Diese Gruppe hier, die in solchen Sachen neune gerade sein ließen, dass sind die „Starken im Glauben". Und diese Starken im Glauben fühlten sich recht erhaben über die kindliche Ängstlichkeit der anderen.

Die anderen sahen aber nicht ein, dass ihre Haltung mindere christliche Qualität haben sollte. Waren sie es nicht, die ihren Glauben ernster lebten, als die anderen Gleichgültigen, glaubten die überhaupt?

Die Starken und die Schwachen - die gibt es bis heute, auch wenn es nicht mehr um den Genuss von Opferfleisch geht.

Liebe Gemeinde, als Pfarrer stand ich oft sehr hilflos zwischen den Schwachen und den Starken. Als junger Pastor habe ich es als meine besondere Aufgabe angesehen, beide Gruppen wieder zusammenzubringen und scheiterte an dieser Aufgabe.

Zwischen christlichen Gruppen tun sich auch heute oft tiefe, unüberbrückbare Gräben auf. Beispiele erspare ich mir. Als Pfarrer steht man immer unter Beobachtung. Auf welcher Seite steht er? Ich sollte einem Standpunkt recht geben und so die anderen zum Schweigen bringen und so, den Streit schlichten.

Starker Glaube oder schwacher Glaube? - Ich war oft selbst als Pfarrer hin- und hergerissen.

Ich erzählte den „Starken im Glauben", die oft so stark waren, dass man im alltäglichen Leben nichts von ihrem Glauben sah, die sich z.B. oft über die lustig machten, die Sonntags in den Gottesdienst kamen, wie schön es doch ist, im Alltag in der Bibel zu lesen, mit den Kindern zu beten, ja bewusst seinen Glauben zu leben und am Sonntag gemeinsam Gottesdienst zu feiern.

Und den „Schwachen im Glauben", die ja dies Glaubensleben praktizieren, und die ich oft Sonntags im Gottesdienst sah: wie wichtig es doch für einen Christen ist, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter auch zu leben, sich um die Not der Menschen zu kümmern, sich für die Ärmsten der Armen einzusetzen, wo auch immer.

Wie gesagt, viel Erfolg habe ich damit nicht gehabt, für die einen war ich zu „fromm" für die anderen zu „weltlich".
Ich gebe zu, in dieser Zeit konnte ich mit Vorstellungen vom Endgericht, vom Richterstuhl Christi wenig anfangen. Diese apokalyptischen Gedanken gehörten für mich in die Zeit der großen Christenverfolgungen, wo die Sehnsucht nach der Endzeit, die einzige Überlebens-chance der geschundenen und gequälten Christen war. Aber wir leben nicht in Verfolgungssituationen.
Das Endgericht, den Richterstuhl Christi nicht so ernst zu nehmen als geschichtliches Phänomen abzutun, das war ein Fehler.
Paulus rechnet mit dem Richterstuhl Christi, darum fällt es ihm nicht schwer, die Starken und die Schwachen so zu lassen wie sie sind. Für ihn wird es nur da schlimm, wo sich die eigene Abneigung und die eigene Vorliebe auf den Richterstuhl Gottes setzt, wo aus dem eigenen Lebens- und Glaubensstil ein Evangelium oder richtiger gesagt ein Gesetz wird, dem sich alle anderen unterwerfen sollen und den, der anders lebt und denkt verteufelt.

Der Apostel Paulus wird jetzt in unserem Predigttext ganz persönlich: „Du! Du aber, was tust du da eigentlich?" Mit diesem „Du" holt er uns heraus aus unserem Leben, wo wir uns so schön eingerichtet haben, aus dem, was wir im Laufe unseres Lebens als Gut und als Böse erkannt zu haben glauben. Mit diesem „Du" bricht er uns heraus aus unserer Gruppe, aus dem Verein, in dem wir uns wohl fühlen und in dem immer geklatscht wird, wenn wir was sagen. Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Du, bedenke, dort lässt dein Fanclub dich allein. Denn dort wird jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.

Christliches Leben, liebe Gemeinde, ist nicht nur eine Sozialisation in die Gläubigkeit, in die wir hineingeboren oder hineingewachsen sind, quasi rückwärst gewandt. Christliches Leben ist Sozialisation in das Himmelreich und seine unendliche Fülle und Weite, immer auch vorwärts gewandt. Deshalb behält sich der Christus den Richterstuhl vor. Denn sein Herz ist weit genug dafür. Und er weiß wohl, dass unsere Herzen immer ganz eng und hart werden, sobald wir uns auf Richterstühle setzen. Und deshalb schreibt Paulus ganz im Sinne Jesu: "Du, komm von diesem Stuhl runter! Hier bist Du fehl am Platz."


Liebe Gemeinde, es ist befreiend, wenn man für sich erst einmal kapiert hat, der Richterstuhl gehört dem Christus. Es ist entlastend, wenn man weiß, das letzte Wort hat Gott. Als Pfarrer habe ich immer nur versucht, seiner Wahrheit nachzuspüren. Und als älterer, erfahrener Pfarrer weiß ich jetzt, wir werden dieser Wahrheit als Menschen dieser Welt immer auf ganz verschiedene Weise und auf verschiedenen Wegen nachgehen. Und jeder dieser Wege wird unvollkommen sein, fehlerhaft, mit Schuld behaftet.
Paulus erinnert an den Ort, wo die letzte Wahrheit zu finden ist. Vor dem Richterstuhl Gottes wird keiner stehen, der mit dem Finger auf andere zeigt, sondern dort werden sich alle Knie beugen. Dort wird keiner mehr ein Urteil gegen den anderen im Mund führen, sondern alle werden Gott bekennen. Das ist der Unterschied.
Wer Gott die Wahrheit über sein Leben und das seines Nächsten überlässt, darf das, was er glaubt und wie er den Glauben lebt, getrost als etwas Vorletztes betrachten.

Liebe Gemeinde, das wir uns nicht falsch verstehen. Auch das Vorletzte werden wir mit einer gewissen Ernsthaftigkeit leben. Wir werden weiter versuchen, den anderen von unserem Weg zu überzeugen. Wir werden diskutieren und streiten um den richtigen Weg. Ich wünsche mir für mich, für uns alle, das wir dabei nicht verlernen über uns selbst zu lachen. Ein Lachen, das Gott die Ehre gibt und unserem Herrn Jesus Christus. Lachen über alles, was wir veranstalten auf dem Heimweg zum Himmelreich und lachen vor Freude, dass unser Herr es trotz allem schaffen wird uns nach Hause zu bringen. Lachen, das sich selbst nicht so wichtig nimmt und Gott dafür umso mehr.
Der Richtgeist und die Rechthaberei machen das Leben schwer. Die machen das Herz eng und hart. Dort hat nicht nur der andere, sondern irgendwann auch ich selbst keinen Platz mehr. Das ist Rückfall und Rückschritt. Gott will, dass unser Weg in die Weite führt.

Gott bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus!
Amen.

Rainer Schling
27. Juni 2010